Ich kann es immer noch nicht fassen, wie trostlos, deprimierend und öde es doch am Ende der Welt ist. Umgepflügte Landschaften mit wenig Vegetation, bewohnt von gebrochen wirkenden desillusionierten Menschen*. Selten habe ich so tief in das menschliche Dasein und dessen Abgründe schauen dürfen. Und ich spreche nicht von einer Favela in Rio de Janeiro oder einem Township in Kapstadt. Nein, ich war am Wochenende in Nordsachen, im ehemaligen Tagebaugebiet Delitzsch Süd zwischen Schladitzer Bucht und Werbeliner See, in einem Ort namens Wolteritz.
Aber alles der Reihe nach.
An einem trüben Samstagmorgen Ende November wollten wir mit Hilfe unserer zeitlosen Zweiräder bis an die Elbe nach Lutherstadt Wittenberg vorstoßen. Das war jedenfalls der Plan. Nach gut einer Stunde standen wir bereits vor den Toren des aufstrebenden Städtchens am Nordrand der Leipziger Tieflandsbucht – Delitzsch. Jedoch setzte unvermittelt und vollumfänglich eine Art Rauschzustand ein, die es uns völlig unmöglich machte, die vor uns liegende, zukünftige Metropole Mitteldeutschlands zu durchqueren.
Wir ließen uns treiben, fuhren einfach der Nase nach. In immer enger werdenden konzentrischen Kreisen folgten wir einer unsichtbaren Umlaufbahn. Die Wege wurden schmaler, Asphalt hörte auf, dann sahen wir immer weniger Menschen, bis am Ende niemand mehr zu sehen war. Auf einmal endete auch der Weg. Der Blick von einem Hügel offenbarte eine Mondlandschaft bis zum Horizont. Wir drehten, wollten einfach den Weg wieder zurückfahren. Fanden ihn aber nicht mehr. Plötzlich trafen wir andere Menschen, die aber weder lachen noch sprechen konnten. Stattdessen versteckten sie sich hinter angsteinflößenden Kampfhunden. Wir fuhren schneller, sprachen angeregt, bogen links ab, dann wieder rechts. Nichts zu machen. Eine unsichtbare Kraft hielt uns fest. Dann endlich eine Kirchturmspitze, Zivilisation. Wolteritz! Unfassbar grau, verfallen und ungemütlich. Wie die Kulisse eines Endzeitfilms, die vergessen wurde abzubauen. Dazwischen wieder von Stiernacken befallene Menschen, ein Phänotyp, der hier in verschiedenen Versionen zu beobachten ist. Ich bekam Angst.
Wie kann es sein, dass sich keine 20 km von zu Hause entfernt eine völlig andere Welt, ja ein anderes Universum befindet, von dessen Existenz ich bis dato keine Ahnung hatte. Obwohl dieser Ort und seine Umgebung mitten in Europa liegen, könnte das Leben der wenigen hier verbliebenen Menschen kaum weiter weg von allem mir bekannten sein. Eine banale, aber trotzdem nicht weniger durchschlagende Erkenntnis macht sich in meinem Bewusstsein breit: Es ist nicht die größtmögliche geografische Distanz, die man zwischen sich und seinem Wohnort bringen muss, um in andere, fremde Gesellschaften eintauchen zu können. Nein, es reicht oft auch schon, einen Ausflug dorthin zu unternehmen, wo die Speckgürtel enden.
Hier wird man jedoch noch mehr als anderswo auf dieser Welt mit Erkenntnissen konfrontiert, die einen so schnell nicht mehr loslassen und zum Nachdenken anregen. Darüber wie sehr mittlerweile die Blase, in der man lebt, schon die Wahrnehmung nach außen im besten Falle nur filtert. Blühende Landschaften sehen anders aus. Längst sind jenseits unserer florierenden Städte Parallelwelten entstanden, deren Bewohner den Glauben an eine bessere Zukunft oftmals aufgegeben haben. Hoffnung, Zuversicht und gute Laune habe ich jedenfalls in keinem Gesicht erkennen können. Und plötzlich und „völlig unerwartet“ haben Parteien, die vermeintliche (einfache) Alternativen für diese Regionen bereithalten, die Mehrheit in jenen Kreis- und Landtagen übernommen.
Was nützt es, wenn wir bestens über die Lage in Brasilien informiert sind, eine Kinderpatenschaft in Mali pflegen oder aktiv die Städtepartnerschaft mit Breslau vorantreiben, wenn das Umland unserer Städte zu einem braunen Sumpf wird. Wenn wir nicht bald anfangen, uns zu Hause einzumischen, dürften Regionen wie Nordsachen in nicht ferner Zukunft deutlich ungemütlicher werden als jedes Township in Kapstadt oder die Favelas in Rio de Janeiro.
* Die Personen und die Handlung des Artikels sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.