Nach den langen Wochen des Dauerregens und der Dunkelheit garniert mit ein wenig Selbstisolation oder der ein oder anderen Kitaschließung, manifestiert sich das Unausweichliche immer mehr: Es wird Frühling! Und das heißt in Coronazeiten, dass die Beschränkungen des täglichen Lebens, aber auch des Reisens fallen. Einfach so. Wie schon im letzten Jahr und auch dem davor öffnen Clubs wieder ihre Türen und Länder ihre Grenzen.
Und nun? Wie geht man mit der abermals zurückerhaltenen Freiheit um? Die Coronapro’s haben natürlich längst Ihren Flug auf die Insel gebucht. Im dritten Coronajahr hat man sich an die neuen Timelines bereits gewöhnt. Endlich mal wieder raus, Sonne tanken, abhängen.
Fans der Fernreise hingegen sind sich noch unsicher, ob diese schon wieder das richtige Mittel zur Ablenkung ist. Eigentlich war die Alpenüberquerung im letzten Jahr auch nicht schlecht. Aber noch ein Jahr „zu Hause“ bleiben? Das ist nur etwas für devote Typen.
Für all jene unter uns die Reisen vor allem mit Sammeln neuer Erfahrungen verbinden (auf Neusprech auch Impuls genannt), sei heute ein Buchtitel ans Herz gelegt, der das Potential hat dieses zu weiten. Vielleicht, so die Hoffnung, inspiriert er den ein oder anderen Leser dazu, sich mal wieder auf eine längere Reise zu begeben. Getreu nach dem Diktum: Man solle nicht den Menschen erklären wie man Boote baut, sondern von fernen Ländern berichten.
In vielerlei Hinsicht ist das Buch Wolfgang Büschers „Berlin-Moskau“- Eine Reise zu Fuß –ein erfrischender Kontrapunkt zu den neuen Strömungen des Unterwegsseins. Achso?
Auch wenn der Titel vermuten ließe, dass der Fokus auf der Überwindung der schier endlos langen Strecke liegt, so wirkt diese eher beiläufig. Der Autor nutzt die Distanz, um Zeit für Nähe zu haben. Die Erfahrung der Strecke bestimmt den Kern des Buches. Es handelt sich um eine Reisebeschreibung eines Aufbruchs ohne genauen Zeitplan. Jedoch mit einem festen Ziel: Moskau.
Mit nur einem kleinen Rucksack und einem Satz Klamotten bricht er von Berlin aus im Sommer auf. Wo es möglich ist, schläft er in Pensionen, Hotels oder bei Bekannten. In Gebieten mit wenig Infrastruktur hat er manchmal tagelang nicht viel zu essen oder findet nichts zum Übernachten. Dieser Charme des Ungewissen resultiert in mitunter unverstellten Begegnungen, welche Raum für Interpretationen und neue Einsichten gewähren. Diese bekommen durch ihre geschichtliche Einordnung eine zusätzliche Tiefe, lassen Zeit zum eigenen Nachdenken. Das ganze Region wird fühlbar, wird zu einem organischen Gewebe, weil von den Menschen, die in ihr leben und lebten, erzählt wird.
Die geschichtliche Kontextualisierung lässt den räumlichen Aspekt immer wieder in den Hintergrund treten. Der abwechslungsreiche und gleichzeitig monotone Alltag des Reisens holt den Leser immer wieder in das hier und jetzt zurück. Ohne jedoch banal zu sein. Ganz im Gegenteil. Der körperliche Verfall, die äußerliche Verwahrlosung, aber auch die sprachliche Verbesserung wirken wie von Geisterhand auf seine Begegnungen zurück. Weder Tripadvisor noch GetYourGuide oder GoogleMaps wären in der Lage solche Geschichten entstehen zu lassen.
Und genau solche Geschichten bleiben bei uns hängen, weil Sie unser Kopfkino ansprechen und somit Raum für Fantasie lassen. Nicht zufällig kommt der Autor ohne ein einziges Bild, ohne einen einzigen Facebookeintrag oder einen einzigen Ausrüster aus.
Viel besser kann man eine (Reise)geschichte kaum erzählen. Fast so wie bei Georg Orwells „Down and out in London and Paris”, aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.
Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau, eine Reise zu Fuß. Rowohlt Verlag Hamburg, 2003.