Ränder der Globalisierung Reiseliteratur Zeitgeist

Leaving the bubble, alta!

Henning Sußebach „Deutschland ab vom Wege: Eine Reise durch das Hinterland.

Januar 2019, Berlin, es ist, wie leider oft um diese Jahreszeit, kalt und regnerisch und wir sind mit den Kindern bei Freunden zu Besuch. In der Küche liegt ganz verloren ein schmales Buch mit dem Titel „Deutschland ab vom Wege – Eine Reise durch das Hinterland. Nichtsahnend blättere ich ein wenig durch das Buch und fange an mit lesen. Anfänglich überwiegt noch die Skepsis, aber je mehr ich vorankomme, merke ich wie mich die Geschichte beginnt zu faszinieren. Endlich mal keine Microadventure-, acht-Jahre-zu-Fuß-durch-hundert-Länder- oder Umsonst-um-die-Welt-Geschichte. Nein, unser Protagonist geht zu Fuß von der Ostsee bis zur Zugspitze. Seine Absicht: Er möchte den Teil Deutschlands kennenlernen, der jenseits der großen Städte, der unaufhörlich pulsierenden Verkehrsadern und der austauschbaren Nicht-Orte liegt. Das Hinterland Deutschlands.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist ein wundervolles Buch, das mir an vielen Stellen aus dem Herzen gesprochen hat und, obwohl ich lange nicht mehr durch Deutschland gewandert bin (https://www.tawahi.de/zu-fus-von-chemnitz-nach-leipzig/) Dinge vor Augen geführt hat, als ob ich selbst unterwegs gewesen wäre.

Die Geschichte dreht sich nicht unmittelbar um das Draußen- und Unterwegssein. Schmerzende Füße, Kälte, Unsicherheit und Hunger gehören unweigerlich dazu. Im Kern geht es aber um das Verlassen der eigenen Filterblase, der großstädtischen Lebenswelt, die wir selbst auf Reisen nur äußerst selten hinter uns lassen. Mit den Worten Hartmut Rosas gesprochen, geht es um Resonanz statt Reichweite. 24/7 sind wir mit allen Teilen dieser Welt verbunden, wissen jedoch gar nichts von Rötha, Pirmasens oder Schlettau. Infolge des ständigen Unterwegsseins ist man nirgendwo mehr.

Tag für Tag sich wandernd vorwärts zu bewegen, früh nicht zu wissen, wo man abends landet, fern jeglicher Zwänge der sozial-medialen Welt; das sind die Voraussetzungen um seine fest gegammelten Filtereinstellungen mal wieder neu zu justieren. Während der Gespräche mit zufälligen Bekanntschaften, überraschender Gastgeber oder Golfclubgesellschaften merkt man plötzlich, wie altbewährte Kategorien und Schubladen sich aufzulösen beginnen und der Blick für Neues frei wird. Rechts, links, arm, reich, deutsch, nichtdeutsch – all diese bedeutungsschwangeren Begrifflichkeiten helfen auf einmal nicht mehr so richtig weiter, wenn man sein urbanes Umfeld mit den Gleichgesinnten verlässt.

Vor allem der eigene Blick auf andere, die eigene Wahrnehmung von sich und seinen Ansichten verändert sich. Jede Begegnung, jeder Tag an der frischen Luft, an den man Zeit hat, über Dinge zu sinnieren, ergibt neue Sichtweisen, Ideen und Denkanstöße. Ein wahrhaft berauschendes Gefühl.

Und auf einmal wird die Bedeutung von Likes, die Größe der zukünftigen Eigentumswohnung oder die geplante Fernreise zugunsten einer frischen Stulle, einer Nacht im Heu oder einem wunderschönen Ausblick von einer Anhöhe aus verdrängt. Duschbad mit Mango Aroma und Massageeffekt? WTF!

Und wenn ein solcher Reisebericht aus dem Jahr 2016 derart sprachgewandt und ausdrucksstark daherkommt, könnte man sich fast zu der Aussage hinreisen lassen, dass es sich bei dem rezensierten Buch um ein unbedingt lesenswertes handelt. Wer auf der Suche nach etwas Gehirnnahrung jenseits von Microadventures, political correctness und Südseeurlaub ist, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.

Henning Sußebach „Deutschland ab vom Wege: Eine Reise durch das Hinterland. Rowohlt, Hamburg 2017. 183 Seiten.