Afrika Ränder der Globalisierung Reiseberichte

Land of tired men

Die meisten Menschen in meinem Bekannten- und Freundeskreis reagierten eher unglaubig und verwundert darüber, als ich eine Reise nach Sierra Leone plante. Muss man denn in ein solches Land reisen, war oft die Frage.

Big eyes...
Big eyes…

Wird es langsam nicht ein wenig zu extrem oder ist das nur Ausdruck eines Wunsches Ländern abzuhacken, sie quasi zu sammeln, wie es heutzutage ja in bestimmten Kreisen angesagt ist? Aber was weiß man denn eigentlich überhaupt von einem Land wie Sierra Leone? Spielt da nicht auch eine Portion Unwissenheit, ja sogar Klischeedenken eine Rolle? Ich beschloss mir das Ganze mal live anzuschauen, allen Unkenrufen zum Trotz.
Im Westen Afrikas direkt am Atlantik gelegen, grenzt Sierra Leone im Osten an Liberia und im Norden und Westen an Guinea. Das Land kann auf eine sehr wechselvolle und z.T. sehr spannende Geschichte zurückblicken. So wurde das damalige britische Protektorat und spätere Kronkolonie nach der Abschaffung des Skavenhandels und Englands Verlust der amerikanischen Kolonien neue Heimat für eine Vielzahl von befreiten Sklaven aus der ganzen Welt. Mitte des 19.Jh. galt die Hauptstadt Freetown als einer der multikulturellsten Orte der damaligen Welt. Bis heute ist Freetown bzw. die kleine Insel Bunce Island in der Nähe der Stadt der wichtigste Ort bei der Identitätsfindung vieler Black Americans.

Keine Brücke weit und breit
Keine Brücke weit und breit

Nachdem die Briten das Land in den 1960ern verlassen hatten, ging es langsam aber stetig vor allem wirtschaftlich bergab. Mit Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts versank das Land dann endgültig im Bürgerkrieg. Die alte koloniale Trennung von Küstenbewohnern versus Ethnien aus dem Landesinnern bildete eine bestimmende, wenn auch nicht die einzige Konfliktinie in diesem völlig unübersichtlichen Konflikt, in dem Ende des Jahrzehntes scheinbar alle gegen alle kämpften.

very tired...
very tired…

Wir reisten also keine 10 Jahre nach dem Ende dieses mörderischen und für viele Menschen traumatisierenden Krieg nach Sierra Leone, um eines der am wenigsten touristisch erschlossenen Länder der Erde zu besuchen. Nach Statistiken der Regierung kamen im Jahr 2010 5000 ausländische Gäste ins Land, wobei darunter auch alle Ankommenden aus den Nachbarländern fallen.
Freetown selbst in nur noch ein Schatten seiner früheren Tage. Es wirkt auf den ersten Bick wie ein überdimensioniertes, hastig errichtetes Flüchtlingslager. Die Wellblechhütten ziehen sich weit hinauf in das „Löwengebirge“, die Sierra Leone, was dem Land den Namen gab. Die reißbrettartig angelegte Stadt mit Ihren kleinen einspurigen Straßen wird nicht mal ansatzweise dem Verkehr von heute gerecht. Lange Staus prägen den Alltag. Wenngleich die Stadt auf einige schöne Stadtstrände verweisen kann, tut man gut daran, sich nicht länger als nötig in selbiger aufzuhalten.

Outamba Kilimi NP
Outamba Kilimi NP

Unser erstes Ziel lag im Norden an der Grenze zu Guinea. Der Outamba-Kilimi Nationalpark wurde in der kurzen Amtszeit des jüngsten Präsidenten der Welt in den 90er Jahren, Mitten in den Wirren des Krieges, zum Nationalpark erklärt. Nachdem der Park und sein Headquarter von den Rebellen mehrfach geplündert und gebrandtschatzt wurde, bieten heute ein paar einfache Hütten dem Touristen Unterkunft. Schlecht ausgebildete Ranger verweisen mit Stolz auf die Nilpferdpopulation, auf die man 1h Kanufahrt flussaufwärts antrifft. Ansonsten hat der Park bis auf seine Tsetsefliegen wenig zu bieten. Trotz seines Status als Nationalpark wird er von Wilderen und Bauern intensiv genutzt. Die großflächigen Brandrodungen sind unübersehbar. Großtiere wie Waldelefanten, Fehlanzeige.
Über  Bo, der zweitgrößten Stadt des Landes ging es dann weiter Richtung Osten, in das Grenzgebiet zu Liberia. Der Besuch des Gola Forest Nationalpark lohnt sich auf jeden Fall für diejenigen, die einen der letzten intakten primären Regenwälder Westafrikas erleben möchten. Eine Wanderung durch den dichten Wald auf den Popondah Hill ist einerseits eine körperliche Herausforderung, jedoch andererseits ein Erlebnis in Bezug auf die Vielfalt an verschiedenen Tier- und Pflanzenarten. Nicht ohne Grund ist der NP ein sogenannter Hotspot der Biodiversität, von denen es weltweit nur sehr wenige gibt.

Gola Forest
Gola Forest

Über die Diamantenstadt Koidu, dem ehemaligen Epizentrum des Bürgerkrieges mit seinen vielen illegalen artisanalen, in Tagebau betriebenen Diamantenminen, reisten wir weiter nach Tiway Island. Diese kleine kaum 12km2 große Insel ist eine der touristischen Attraktionen des Landes. Mit der weltweit höchsten Primatendichte ist sie für jeden „Affenfan“ ein Muss. Die Infrastruktur ist einfach, aber ausreichend. Einzig der dichte Wald erschwert die Beobachtung der seltenen Affenarten. Absoluter Höhepunkt war die kurze Sichtung eines der seltensten Tiere dieses Planeten, des Zwergflusspferdes, welches nur in Sierra Leone und Liberia anzutreffen ist.
Nachdem wir dann genug von dem feuchtwarmen Klima des Inlandes hatten, brachen wir in Richtung Küste auf, die für Ihre langen unberührten Sandstrände berühmt ist. Bis weit in die 80er Jahre hinein, kamen sogar Pauschaltouristen in diese entlegene Region, um hier Urlaub zu machen. Nach den entbehrungsreichen und strapaziösen Tagen im Hinterland kam uns die frische Meeresbrise, der leckere Lobster und das reichhaltige Obstangebot paradiesisch vor.

River Nr. 2
River Nr. 2

En resumé, Sierra Leone ist kein einfaches Reiseland. Infrastrukturell hat das Land große Defizite, ausgebildete Leute sind Mangelware; entsprechend muss der Reisende in puncto Service und Unterkunft Abstriche hinnehmen. Dafür gibt es aber einen ungeschminkten Blick auf ein Land und seine Menschen, die nach jahrelangen Rückschlägen auf der Suche nach Identität  und Versöhnung sind.  Allen Unkenrufen zum Trotz.